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Flüchtlingsrat protestiert gegen Asylschnellverfahren und erneute Sammelabschiebung im Winter

Pressemitteilung 19.02.2015

Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisiert die Haltung der Landesregierung von Baden-Württemberg in der Diskussion um die in den vergangenen Wochen deutlich gestiegenen Zahlen von Flüchtlingen aus dem Kosovo. Der Flüchtlingsrat hat vor allem kein Verständnis dafür, dass sich die Landesregierung für ein Asyl-Schnellverfahren stark gemacht hat: „Alle Asylsuchenden haben das Recht auf ein faires und rechtsstaatlich korrektes Asylverfahren. Dies muss auch für Asylsuchende aus den Balkan-Staaten gelten“, sagte die 1. Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Angelika von Loeper.
Ein nur zwei Wochen dauerndes Verfahren vom Asylantrag bis letztlich zur Abschiebung ist zeitlich unrealistisch und kann nicht den rechtsstaatlichen Standards entsprechen, denn auch bei der Ablehnung eines Asylantrags muss der Klageweg möglich sein. Der Flüchtlingsrat bezweifelt, ob rein ordnungspolitische Maßnahmen wie von Innenminister Gall befürwortet (schnelle Asylverfahren und Abschiebungen, Grenzabschottung usw.) der richtige Umgang mit dem verstärkten Zugang von Flüchtlingen aus dem Kosovo sein können.
Dies alles ist kein „großer Schritt in die richtige Richtung“, wie Innenminister Gall (Südwestpresse 14.2.2015) behauptet, sondern bekämpft die Flüchtlinge anstatt die Fluchtursachen: „Die Landesregierung hat sich im Umgang mit Flüchtlingen „Humanität hat Vorrang“ auf die Fahne geschrieben. Davon sollte sie sich nicht leichtfertig verabschieden. Mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik kann die viel beschworene „Willkommenskultur“ und die gute Stimmung im Land schnell wieder kippen.“ 
Die Asylsuchenden aus dem Kosovo pauschal als Wirtschaftsflüchtlinge zu verunglimpfen und jetzt auch die Einstufung weiterer Balkanstaaten wie dem Kosovo als „sichere Herkunftsstaaten“ zu wollen, trägt nicht zur Bekämpfung von Fluchtursachen bei, sondern folgt einer migrationspolitischen Abschreckungslogik, die letztlich an der Realität vorbei geht. Vor allem Roma und andere Minderheiten sind dort nach wie vor von verfolgungsrelevanten Diskriminierungen betroffen:

„Wir trafen Menschen, die überhaupt nichts haben. Menschen, die hungern und nur zögernd davon erzählen, weil sie sich dafür schämen oder es für selbstverständlich halten. Roma und andere Minderheiten werden in allen alltäglichen Aspekten des Lebens wie Arbeit, Bildung, Bewegungsfreiheit, Zugang zu Sozialleistungen und zu Gesundheitswesen systematisch diskriminiert. Sie müssen gewalttätige Übergriffe aus rassistischen Motiven befürchten. Die vielfältigen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen stellen zusammengenommen eine schwere Menschenrechtsverletzung dar – dies trifft vor allem auf die besonders schutzbedürftige Gruppe der Kinder zu “, berichtet Jan Sürig, Rechtsanwalt aus Bremen in der Broschüre  Abgeschobene Roma im KOSOVO – Journalistische, juristische und medizinische Recherchen (vgl. Pressemitteilung des Flüchtlingsrats Niedersachsen vom 17.02.2015: „Im Kosovo gibt es keine Sicherheit – für Roma am Allerwenigsten“

Darüber hinaus kritisiert der Flüchtlingsrat den Umgang mit den bereits im Land befindlichen Asylsuchenden aus den im Herbst 2014 zu „sicheren Herkunftsstaaten“ deklarierten Ländern. Seit dem „Asylkompromiss“ werden die Abschiebungen von abgelehnten Asylsuchenden aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina forciert. „Dabei nehmen die Behörden des Landes keine Rücksicht mehr auf Einzelschicksale und mögliche Abschiebungshindernisse“ klagt Angelika von Loeper. „Trotz anderslautender Aussagen aus dem Innenministerium wird im Einzelfall gerade eben nicht gründlich genug geprüft, in welche Verhältnisse die Menschen abgeschoben werden.“ Dies zeige auch der Fall der alleinerziehenden und kranken Frau Ametovic und ihrer ebenfalls kranken 6 minderjährigen Kinder aus Freiburg (siehe auch Online-Petition: "Sofortiges Wiedereinreise- und Rückkehrrecht von Frau Ametovic und ihren Kindern nach Freiburg!" ). Es steht zu befürchten, dass bei der für den 24. Februar vorgesehenen erneuten Sammelabschiebung vom Baden-Airpark wieder Personen in Elend Diskriminierung abgeschoben werden.
Der Flüchtlingsrat hat eine Liste von Kriterien erarbeitet, nach denen bei abgelehnten Asylsuchenden aus den Balkanstaaten ernsthaft und gewissenhaft überprüft werden sollte, ob Voraussetzungen für mindestens eine Aussetzung der Abschiebung, wenn nicht sogar für die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis vorliegen. Diese Kriterienliste finden Sie im Anhang.

Der Flüchtlingsrat fordert die Landesregierung auf:
- die gegen die Kosovo-Flüchtlinge in Gang gebrachten Asyl-Schnellverfahren wieder einzustellen und ein faires und korrektes Asylverfahren durchzuführen
- auch bei abgelehnten Asylsuchenden in jedem Einzelfall ernsthaft auf mögliche Abschiebungshindernisse zu überprüfen
- die Kriterien für die angebliche Einzelfallprüfung offenzulegen
- zu einer Politik nach dem Vorsatz „Humanität hat Vorrang“ zurückzukehren
- die migrationspolitische Abschreckungsrhetorik zu beenden und statt Flüchtlinge zu bekämpfen tatsächlich Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die Fluchtursachen bekämpfen können

Kontakt: Angelika von Loeper: 0172-6185384
Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats: 0711-5532834


Anlage: Kriterienliste für die Überprüfung von möglichen Abschiebungshindernissen

"Aus Sicht des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg sollte eine Abschiebung mindestens ausgesetzt werden oder eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist (und keine Straftaten vorliegen, siehe C.):

A. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse:
1. Es handelt sich um Alleinerziehende oder Familien mit minderjährigen Kindern, die in Deutschland zur Schule gehen
2. Es handelt sich um Personen, die in Deutschland geboren sind oder die ersten Jahre ihres Lebens in Deutschland verbracht haben und / oder die sich insgesamt bereits mehrere Jahre (entsprechend der in den 25 a und b AufenthG vorgegebenen Dauer) erlaubt, gestattet oder geduldet in Deutschland aufgehalten haben
3. Es handelt sich um Nachfahren von NS-Opfern
4. Die betroffenen Personen können gute Integrationsleistungen nachweisen, z.B. sie haben eine Ausbildungsplatzzusage oder befinden sich bereits in der Ausbildung; sie haben einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz (mit unbefristetem Arbeitsvertrag??) oder ein schriftliches Angebot für einen solchen Arbeitsplatz
5. Es handelt sich um Personen, die sich wegen einer schweren (akuten oder chronischen) Erkrankung in Deutschland in ärztlicher Behandlung befinden

B. Herkunftslandbezogene Abschiebungshindernisse
1. Es handelt sich um Personen, denen - nicht nur im Winter - nach einer Abschiebung die Obdachlosigkeit droht oder die vor ihrer Flucht von nicht menschenwürdigen Wohn- und Lebensbedingungen betroffen waren (Hütten oder andere Wohngebäude ohne Heizung, Wasser oder Strom) und keine Aussicht auf eine vergleichsweise bessere Unterkunft haben.
2. Es handelt sich um Personen, die von schweren, insbesondere chronischen, Krankheiten betroffen sind, die im Herkunftsland nicht behandelt werden können oder deren Behandlung aufgrund von nicht vorhandenem Krankenversicherungsschutz von den Betroffenen nicht bezahlt werden können.
3. Es handelt sich um Personen, die schwere körperliche oder geistige Behinderungen haben, für die es im HKL keine ausreichenden Leistungen und / oder keine adäquaten Betreuungseinrichtungen gibt und die eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung verunmöglichen.
4. Es handelt sich um Personen, die nach der Abschiebung von Mittellosigkeit betroffen sind. Insbesondere sollte die Abschiebung bei Familien oder Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, die auch bei Gewährung von herkunftslandüblicher Sozialhilfe (die häufig trotz Bedürftigkeit nicht gewährt oder erstmals erst nach mehreren Monaten ausgezahlt wird) zu einem Leben in absoluter Armut gezwungen sind (Mangelernährung etc.), unterlassen werden.
5. Es handelt sich um Mädchen oder Frauen, die von männlicher sexueller oder sonstiger Gewalt betroffen waren oder massiv bedroht sind und von staatlichen Behörden keinen ausreichenden Schutz erhalten konnten oder können.
6. Es handelt sich um Personen, die von (wiederholten) rassistischen Anfeindungen oder derart motivierten gewalttätigen Angriffen betroffen waren
C. Und (selbstverständlich): Es liegen keine (nicht-verjährten) Verurteilungen wegen in Deutschland begangenen Straftaten über der z.B. in den Bleiberechtsgesetzen festgesetzten Höhe (50 Tagessätze / 90 TS Straftaten mit ausländerrechtlichem Bezug) vor."

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