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EuGH stellt Elternnachzug zu umF „auf den Kopf“

Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH) vom 12. April 2018 behält ein unbegleiteter Minderjähriger sein Recht auf Elternnachzug, wenn er zum Zeitpunkt der Asylantragstellung noch minderjährig war und ihm später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird. Voraussetzung ist, dass der Elternnachzug innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beantragt wird. Der Entscheidung lag zwar ein Fall aus den Niederlanden zu Grunde. Sie ist aber vollumfänglich auf Deutschland übertragbar, denn der Elternnachzug beruht auf der sogen. Familienzusammenführungsrichtlinie und deren Interpretation durch den EuGH ist auch für Deutschland verbindlich.

Anspruchsgrundlage für den Elternnachzug zum unbegleiteten Minderjährigen ist § 36 Abs. 1 AufenthG. Hier galt bislang, dass ein Nachzug der Eltern nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Kindes möglich war. Dies beruhte auf einer Entscheidung des BVerwG aus dem Jahr 2013, wonach für die Frage der Volljährigkeit der Zeitpunkt der Visumserteilung maßgeblich war. Die Erteilung eines Visums an die Eltern eines (inzwischen) volljährigen Kindes war danach ausgeschlossen. Diese Praxis ist nun nicht mehr haltbar. Ein bei Asylantragstellung unter 18-jähriger behält den Minderjährigen-Status auch nach Eintritt der Volljährigkeit. Für die Zwecke des Elternnachzugs wird dessen Minderjährigkeit mit Asylantragstellung sozusagen „eingefroren“.

Zentral für den EuGH war dabei das Argument, dass das Recht auf Elternnachzug andernfalls davon abhänge, wie schnell oder langsam der Asylantrag bearbeitet wird. Das würde den Elternnachzug nicht nur zum Roulette machen, sondern auch den (Fehl-)Anreiz setzen, das Asylverfahren in die Länge zu ziehen. Auch ein unbegleiteter Volljähriger hat deshalb Anspruch auf Elternnachzug, wenn er nur im Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig, also unter 18, war und später den Flüchtlingsstatus erhält. Eine zeitliche Begrenzung besteht lediglich insofern, als der Antrag auf Elternnachzug spätestens innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt werden muss. Der EuGH orientiert sich hier an der aus dem Ehegatten- und Kindernachzugsrecht bekannten Drei-Monats-Frist, umgangssprachlich auch als „fristwahrende Anzeige“ bezeichnet (§ 29 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AufenthG). Einen Grund, die drei Monate auszuschöpfen, gibt es nicht. Der Antrag sollte deshalb unmittelbar nach Erhalt des Flüchtlingsstatus, und zwar bei der deutschen Auslandsvertretung und der zuständigen Ausländerbehörde gestellt werden. Wenn machbar, sollte der Antrag auch von den Eltern unterschrieben werden, denn die Möglichkeit der Antragstellung durch den „Stammberechtigten“ besteht eigentlich nur im Falle des Ehegatten- und Kindernachzugs (§ 29 Abs. 2 Satz 3 AufenthG). Allerdings legt es das Urteil des EuGH nahe, dass der Antrag auf Familienzusammenführung (auch) vom Minderjährigen gestellt werden kann, denn diese dient in erster Linie seinem Wohl

Zusammengefasst besteht ein Anspruch auf Elternnachzug nach der Entscheidung des EuGH nunmehr unter folgenden Voraussetzungen:

  • Asylantragstellung als unbegleiteter Minderjähriger
  • Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
  • Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Die Entscheidung wirft eine Reihe von Folgefragen auf, deren Beantwortung vermutlich noch eine ganze Weile auf sich warten lassen wird. Im Hinterkopf sollte man haben, dass die Entscheidung in eine Zeit fällt, in der politisch eine Beschränkung des Familiennachzugs angestrebt und teilweise auch schon umgesetzt wird. Mit anderen Worten: Es ist zu erwarten, dass die zuständigen Entscheidungsträger nach Argumenten suchen werden, warum aus dem Urteil des EuGH allgemein oder im Einzelfall kein Anspruch auf Elternnachzug abgeleitet werden kann. Deshalb ist es wichtig, vorsorglich alle im eigenen Verantwortungsbereich in Betracht kommende Maßnahmen zu ergreifen, damit ihr Unterlassen einem später nicht vorgehalten werden kann.

  1. An solche Maßnahmen ist vor allem bei „Altfällen“ zu denken. Hier ist völlig offen, ob und wie sich die Entscheidung auf sie auswirkt. Es gilt das Motto: Nur wer es versucht, kann von der Entscheidung des EuGH „profitieren“. Verschlechtern kann man sich nicht. Allerdings sollte man in der Beratung offen auf die unsicheren Erfolgsaussichten hinweisen.
    Als allgemeine Empfehlung gilt für Altfälle, in denen bislang noch kein Elternnachzug beantragt wurde, dass dies so schnell wie möglich bei der zuständigen Auslandsvertretung und Ausländerbehörde nachgeholt werden sollte. In der Praxis kann man sich hier zunächst an der für einen Wiedereinsetzungsantrag geltenden Zwei-Wochenfrist orientieren (§ 32 VwVfG). Genau genommen gibt es allerdings keine Frist, in die eine Wiedereinsetzung erfolgen könnte, denn eine solche galt beim Elternnachzug bislang ja gar nicht. Es ist aber – und sei es nur zur Gewährleistung eines schnellen Antrags –  unschädlich, den Antrag auf Elternnachzug mit einem Wiedereinsetzungsantrag zu verknüpfen. Entscheidend ist, dass der Wille, den Elternnachzug mit Blick auf die Entscheidung des EuGH zu beantragen, unmissverständlich zu Tage tritt. Sieht man die Bekanntgabe der Entscheidung des EuGH als fristauslösendes Ereignis an, würde die Frist am 26.4.2018 ablaufen.
    Näher als die 2-Wochenfrist liegt die vom EuGH angesprochene Drei-Monatsfrist, die eine unabsehbare Inanspruchnahme des Elternnachzugsrechts verhindern soll. Innerhalb dieser Drei-Monatsfrist sollte der Elternnachzug in jedem Fall beantragt werden.

    Wurde vor dem Urteil des EuGH ein Antrag auf Elternnachzug gestellt, über den die deutsche Auslandsvertretung noch nicht entschieden hat, müsste die Rechtsauffassung des EuGH eigentlich „von Amts wegen“ berücksichtigt werden. Trotzdem kann man die Auslandsvertretung unter Angabe des Aktenzeichens des Visumsverfahrens und unter Hinweis auf die Entscheidung zur Erteilung des Visums auffordern.

    Wurde der Visumsantrag - unter Hinweis auf den zwischenzeitlichen Eintritt der Volljährigkeit - bereits abgelehnt und läuft die „Rechtsmittelfrist“ noch, kann gegen die Ablehnung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH remonstriert und – sollte ein ablehnender Remonstrationsbescheid ergehen – geklagt werden.

    Wo der Visumsantrag dagegen schon bestandskräftig abgelehnt wurde, die Rechtsmittelfrist also schon abgelaufen ist, muss das Wiederaufgreifen des Verfahrens beantragt werden. Für diesen Wiederaufgreifensantrag gilt eine Drei-Monats-Frist (§ 51 Abs. 3 VwVfG). Ob die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen erfüllt sind, ist durchaus diskutabel. Eine Rechtsprechungsänderung stellt eigentlich keine Änderung der Rechtslage dar, wie sie § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG an sich voraussetzt. Genau genommen war die Rechtslage ja schon immer so, nur wurde sie – von der Warte des EuGH aus betrachtet – bislang verkannt. Über diesen Punkt kann (und muss) man allerdings trefflich streiten, denn es ist nicht auszuschließen, dass es zur effektiven Durchsetzung des Elternnachzugsanspruchs europarechtlich geboten ist, einen Wiederaufgreifensgrund zu bejahen. Um diese Chance zu wahren, muss in jedem Einzelfall einer bestandskräftigen Ablehnung das Wiederaufgreifen beantragt werden. Die Drei-Monatsfrist sollte vorsorglich ab Bekanntgabe der Entscheidung, also dem 12.4.2018, berechnet werden.

  2. Denkt man die Entscheidung des EuGH konsequent zu Ende, müsste den Eltern nach der Einreise ein dauerhafter Anspruch auf Verlängerung ihres Aufenthaltstitels aus familiären Gründen zustehen. Das folgt daraus, dass ihr Kind – normativ, also bei wertender Betrachtung – den Status als Minderjähriger behält. Bislang bestand dieser Anspruch nur bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Kindes. Der bei Asylantragstellung Minderjährige bleibt also zeitlebens „minderjähriger Ausländer“ im Sinne von § 36 Abs. 1 AufenthG mit der Folge, dass den Eltern ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zusteht (§§ 36 Abs. 1, 8 Abs. 1 AufenthG). Mit dieser Argumentation sollten die für die Erteilung zuständigen Ausländerbehörden ausdrücklich konfrontiert werden. Unberechtigt, aber erfahrungsgemäß dauert es nämlich etwas länger, bis Entscheidungen aus Europa in der nationalen Behördenpraxis ankommen.

    Von dem Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen unberührt bleibt das Recht der Eltern, einen Asylantrag zu stellen.

  3. Eine weitere Frage, die man sich nach der Entscheidung des EuGH möglicherweise stellen muss, ist, ob man nicht auch beim Kindernachzug „umdenken“ muss. Hier gilt bislang, dass das Kind dann „minderjährig“ im Sinne von § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist, wenn das Kind bei Beantragung des Visums (sog. „fristwahrende Anzeige“) unter 18 ist. Die danach eintretende Volljährigkeit hinderte die Visumserteilung nicht, die davor eingetretene dagegen schon. Wie beim Elternnachzug zum umF – wenngleich nicht so ausgeprägt – ist auch das Nachzugsrecht des Kindes zu den als Flüchtling anerkannten Eltern davon abhängig, wie schnell oder langsam das Bundesamt über den Asylantrag der Eltern entscheidet. Auch hier ließe sich deshalb möglicherweise argumentieren, dass es für das Nachzugsrecht darauf ankommt, dass das Kind im Zeitpunkt der Asylantragstellung der Eltern das Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht hatte.

  4. Entscheidung des EuGH vom 12. April 2018 im Volltext (C-550/16)
  5. Pressemitteilung des EuGH zur Entscheidung

 

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